So war es im Siegerland um die Jahrhundertwende
Um 1900 gab es im Siegerland viele Großfamilien. Trotz der armen Zeit waren Zehn Kinder und mehr in einer Familie keine Seltenheit. Betrachten wir doch mal eine Großfamilie aus Eisern die in einem alten Fachwerkhaus wohnte. Das etwa 15 m lange uralte Haus war ein Drittel von der Landwirtschaft belegt und zwar mit Schweine-, Kuh- und Hühnerstall. Nur vier Räume dieses Hauses konnten beheizt werden. Die Ofenrohre von den vier Zimmern landeten in der Räucherkammer. Diese Dunkelkammer lag im Obergeschoss und hatte keine Türe und kein Fenster. Nur mit einer Leiter kam man von der Küche durch eine Falltür hinein. Weit über 300 Jahre wurde nur mit Haubergholz und Schanzen gekocht und gestocht. Ebenfalls drei Jahrhunderte diente ein Schornstein aus Lehmfachwerk dem Haus. Er wurde vor einigen Jahrzehnten auf Anordnung der Feuerschutz Polizei in einen durchgehend massiven Kamin umgebaut. Das Strohdach wurde auch schon seit Jahren durch ein Schieferdach ersetzt.
Eisern (Foto von Holger Klaes)
In einem Fässchen oder im Zuber wurden die Kinder samstags gebadet. Da man Wasser, Zeit und Mühe sparen wollte kam der Schmutzigste zuletzt an die Reihe. Die Erwachsenen machten die große Wäsche unter dem Wasserkran oder in der Waschschüssel, denn man kannte keine Badewanne.
Einmal im Jahr kam für einige Tage der Schuster in dieses Haus und richtete in der Wohnstube seine Werkstatt ein. In der Großfamilie wurden mehr als 12 Paar Schuhe geflickt bzw. neu besohlt. Dazu hatte der Vater schon die große Rolle Sohlleder bereitgestellt, die er durch den Verkauf von Lohe erhalten hatte. Die Kinder hatten bis zur Konfirmation, etwa dem 14. Lebensjahr, nur Werktagsschuhe, die benagelt und die Absätze mit Eisen beschlagen waren. Zur Konfirmation gab es die ersten Sonntagsschuhe. Monatlich wurden übers Jahr ein paar Schuhe nach Maß von der Familie in Auftrag gegeben. Da man sparen musste wurden noch tragfähige Kleidungsstücke und Schuhe an die jüngeren Geschwister zum Auftragen gegeben.
Zwei Kinder in der Wanne (Foto WDR Digit)
Als Kerze, Kienspan und Petroleumlampe durch die viel hellere und ungefährlichere Glühbirne abgelöst wurden war die Verwunderung bei den Alten sehr groß und die Umstellung nicht so schnell zu begreifen. Die Oma fragte, ob das Steinöl jetzt durch den Draht zur Lampe fließe? Als bei einem starken Regen dicke Regentropfen am Draht entlang zu dem Haus liefen sah es die Oma und sagte stolz: "Jetzt weiß ich es, das Öl läuft am Draht entlang in unser Haus."
Das Brot beim Bäcker zu kaufen wäre für eine Großfamilie viel zu teuer gewesen. Deswegen wurde der große Backtrog alle 14 Tage am Vorabend des Backtages ins Wohnzimmer gestellt und der Vorteig gemacht. 20 Brotlaibe walkte die Mutter am anderen Morgen auf dem Tisch und legte sie auf Backbretter. Sie wurden nun auf einer Schubkarre zum Backes gefahren. Die frisch gebackenen Roggenbrote holte man, wenn sie fertig gebacken waren nach Hause. Sie wurden nun auf eine Brotraufe, die im Keller unter der Decke hing, gelegt. Von den Mäusen wurden aber diese Brote trotzdem besucht.
Brot im Steinbackofen (Bild JPK-Wikipedia)
Ein anderes landwirtschaftliches Phänomen aus dem Siegerland war die Wiesenwirtschaft. Eine spezielle Form der Bewässerung, die den Heuertrag wachsen ließ. Mit dem Wiesenbeil wurden Gräben nach der Schnur mit Hacke und Schaufel ausgehoben. Die waren kerzengerade, der Opa war da ganz genau. Zur Bewässerung wurde der naheliegende Bach angestaut, bis das Wasser dann durch die Gräben auf die Wiesen lief. Sobald die Sonne aufging sind sie aufgestanden, gegen viertel nach vier stand man schon auf der Wiese. Wenn das Gras noch feucht war, war der Schnitt am besten. Es wurde alles mit der Sense von Hand geschnitten. Die Frauen verteilten später das gemähte Gras, um es zu trocknen. Etwa drei Tage lang musste es gewendet, abends zu Heukegeln aufgestellt und am nächsten Tag wieder zerstreut und gewendet werden, bevor es in Tüchern gesammelt und als Tierfutter auf dem Heuboden deponiert wurde.
Im Hauberg
Zu dem Haus in Eisern gehörten fünf Feldern und fünf Wiesen und ein beachtlicher Haubergs Anteil. So wurden im Frühjahr fünf Wagen Haubergs Holz und zwei Wagen Schanzen mit den Kühen nach Hause gefahren. Es war eine verhältnismäßig kleine Landwirtschaft. Jährlich wurden etwa 80 Zentner Kartoffeln und ausreichend Brotkorn für das ganze Jahr geerntet. Die zwei Kühe lieferten die Milch und zwei Schweine wurden jedes Jahr geschlachtet, so dass genug Grundnahrungsmittel vorhanden war.
Von der Mutter wurde auch das Vieh versorgt und die Kühe gemolken, bis sie die Kinder angelernt hatte. Die Milch wurde im Keller, da es noch keine Zentrifuge gab, in eine große flache Blechwanne geschüttet. Der Rahm, der sich nach oben absetzte wurde später abgeschleppt. In eine Drehkirne kam der Rahm und die Mutter freute sich später über einen dicken Butterkloß, der für eine Woche reichte. Auch Quark, Bierkäse und Handkäse konnte sie herstellen was immer einen guten Absatz fand. Zur Erntezeit im Herbst hingen viele Girlanden an der Südseite des Hauses. An ihnen hingen Apfelstücke und -ringe zum dörren. Im Winter waren diese Apfelschnitzel als Beikost oder Nachtisch sehr begehrt.
Aufbau von einem Kohlenmeiler in Walpersdorf (Bild Holger Klaes)
Alle 14 Tage gab es den großen Waschtag was eine Schwerstarbeit war. Um die Wäsche von 12 Personen zu bewältigen musste immer eine Waschfrau mithelfen. Sie hatte starke Arme und musste tüchtig am Waschbrett schrubben, was viel Kraft kostete. Nachdem die Wäsche ausgewaschen war wurde sie auf die Wiese gelegt und gebleicht. Sie wurde dabei übergossen und danach mit klarem Wasser am Bach gespült. Sie duftete nach Wasser, Sonne und Luft und nicht nach Chemie und war doch schneeweiß.
Im Herbst wurde immer ein Fass mit Sauerkraut (Weißkohl geraspelt) gefüllt. Es wurde mit einem beschwerten Deckel abgedeckt und reichte für ein Jahr. Der Abort lag außerhalb des Hauses zwischen Scheune und Schuppen. Es war ein Plumsklosett und man hielt sich bei Kälte nicht länger auf als nötig. Man könnte noch viele Beispiele bringen. So gab es noch keine Waschmaschine, keinen Trockner, Spülmaschine, Kühlschrank, Gefriertruhe usw... Auch ein Traktor und die vielen Hilfsgeräte für die Landwirtschaft waren noch nicht vorhanden. Wissen wir eigentlich wie gut wir es haben?
Beim Kirnen der Butter (Ansichtskarte)
Als dann aber in den ersten 18 Jahren der Ehe zehn Kinder geboren wurden war es nicht einfach solch eine Großfamilie durchzubringen. Es gab seinerzeit noch kein Kindergeld und staatliche Unterstützung wie heute. Um die Not zu lindern, richtete Vater sich auf dem Speicher eine Schreiner- und Stellmacherwerkstatt mit allen erforderlichen Geräten ein. Er reparierte dort die landwirtschaftlichen Geräte. Aber auch Stühle, Schemel, Kinderbetten, Schlitten usw. fertigte er. Auch Reiserbesen band er, flechtete und flickte Körbe.
Familie mit zehn Kindern (Bild von WDR Digit)
Obwohl fast jeder Werktag für ihn ein zwölf Stundentag harter Arbeit war ging er jeden Sonntagmorgen, egal was für Wetter es war, nach dem Rödgen in die Kirche und besuchte am Nachmittag noch die Versammlung in der Gemeinschaft. Er hielt es mit dem Bibelspruch Josua 24 Vers 15: "Ich aber und mein Haus wollen dem Herrn dienen." Und drinnen und draußen regten sich stets die fleißigen Hände der Hausfrau und Mutter bis spät in die Nacht.