Stahlhelme wurden zu Jaucheschöpfern umgebaut
Siegen 1944 durch Bombenangriff zerstört
Als ich im Oktober 1946 in Dahlbruch eingeschult wurde war Deutschland zum großen Teil noch ein Trümmerfeld und es herrschte bittere Armut. 66 Schulanfänger wurden seinerzeit vom Jahrgang 1939 eingeschult. Es war zahlenmäßig wohl der stärkste Jahrgang den Dahlbruch je gehabt hattte. Ich startete die Schule mit einem Ranzen, den zuvor mein Bruder Kurt schon acht Jahre getragen hatte. Er diente mir meine ganze Schulzeit. Zum Schluss wurde er zur Tasche umgearbeitet und ich nahm ihn noch mit in die Lehre.
Siegens Infrastruktur 1944 durch Bombenangriff zerstört
Um die Not zu lindern, hatten die meisten Siegerländer Familien nach dem letzten Krieg noch eine kleine Landwirtschaft. Wenn auch in verschiedenen Häusern eine oder mehrere Kühe standen, so waren die Ziegen, die Kühe des kleinen Mannes, doch dominierend. Wer zwei oder drei solcher Bergmannskühe besaß, hatte wöchentlich gut ein Pfund Butter. Aber auch ein Hausschwein, Hühner und Hasen gehörten fast immer dazu. Die Mümmelmänner wurden nicht wie heute für die Kinder gehalten, sondern sie dienten ausschließlich der Ernährung. Krieg und Hunger hatten die Menschen schon abgehärtet und so brachte man als Junge auch einen Hasen oder ein Ziegenlämmlein zum Schlachten fort. Fast alle Hausabfälle verfütterte man wieder. Selbst die Knochen wurden zu Mehl gepresst und für die Tiere verwendet.
Es gab auch sonst nur wenig Abfall, denn es wurde fast alles Brennbare verfeuert. Aus diesem Grunde kannte man auch keine Müllabfuhr. Allerdings füllte man mit dem Restmüll oft die uralten Hohlwege, die Kulturnarben der Vergangenheit. Die Wälder waren im Gegensatz zu heute wie gekehrt. Selbst Tannenzapfen und Reisig sammelte man noch, um Feuer anzuzünden. Waren die Zapfen feucht, trocknete man sie im Backofen. Ja, man grub sogar Wurzelstöcke für Brennholz aus. Öl pressten die Siegerländer aus den gesammelten Bucheckern. Viele eingesessene Familien bearbeiteten noch den Hauberg. Natürlich mit der Axt und nicht mit der Motorsäge. Aber auch das Lohschälen an den jungen Eichenstämmen war üblich.
Wer keine kleine Landwirtschaft oder Viehhaltung hatte musste durch “Hamstertouren” Lebensmittel und andere Güter des täglichen Lebens beschaffen
Eine Wasserspülung kannte kaum jemand, sondern ein Plumpsklosett war vorhanden. Die Sekrete von Mensch und Tier wurden mit dem Mist zur Düngung von Garten, Feld und Wiese benötigt. Daher gab es auch kein Klärwerk. Allerdings verwendete man auch nur die natürliche Seife und nicht die Chemie. Da Toilettenpapier Mangelware war, hing in Blättern geschnittenes Zeitungspapier auf dem stillen Örtchen. Im Winter musste man acht geben, dass man hier nicht fest fror. Sogar die Wasserdüngung der Wiesen war noch üblich. Die kleinen Gräben hierzu wurden jedes Jahr, damit das Nass hierin richtig rinnen konnte, fachgerecht ausgehoben. Selbst Pferdeäpfel, die auf den Straßen lagen, sammelte man und verwendete sie als Dünger für den Garten.
Jede Familie hatte seinerzeit einen großen Nutzgarten, in dem auch Tabakpflanzen standen.
Unsere Familie bearbeitete außer unserem Hausgrundstück noch fünf Gärten bzw. Felder, wo heute in Dahlbruch Häuser stehen. Das Obst von den Siegerländer Bäumen wurde im Gegensatz zu heute vollkommen verwendet. Oft sind wir im Herbst über Zäune geklettert und haben mit fremdem Ost unseren Hunger etwas gestillt. Es gab keine fettleibigen Menschen. Es blieb nichts brach liegen. Selbst Böschungen und Ränder mähte man für die Grünfütterung. Vier Zentner Kartoffeln kellerte man pro erwachsene Person ein. Heute dagegen nicht mal ein Viertel dieser Menge.
Vor den Bäckereien gab es lange Schlangen
Es gab jeden Abend Bratkartoffeln, die mit etwas fettem Speck und Zwiebeln gebraten wurden. Aus diesem Grund züchtete man das Hausschwein auch so, dass es einen ganz dicken Speck bekam. Für den Eigenbedarf setzte man Kartoffeln aufs Feld. War kein Zugtier vorhanden, zogen zwei Menschen den Pflug. Bei festem, schwerem Boden wurde noch einer davor gespannt. Es gab nur ganz wenige Autos, auch einen Traktor sah man kaum. An den Rändern der Landstraßen lagen schon mal Aschehaufen, die von den Holzvergasern waren. Das Hauptzugtier war seinerzeit die Kuh, die dabei aber auch noch genug Milch geben sollte. Wenn zwei Kühe vor dem Wagen gespannt waren sah man manchmal eine mit einem Maulkorb. Als Kind habe ich immer gedacht, dass diese Kuh bissig ist. Erst Jahrzehnte später ist mir berichtet worden, dass dieses Tier vom Nachbarn, der nur eine Kuh und wenig Felder hatte, ausgeliehen worden war. Sie sollte nicht noch das wenige Heu oder Gras, was der Nachbar hatte, fressen.
Der Autor mit seiner Schwester im Jahre 1947
Nur ganz wenige Häuser hatten eine Heizungsanlage. Feuerstellen gab es nur in der Küche, Wohnzimmer und Waschküche. In der Küche loderte das Feuer im Herd jeden Tag. Im Wohnzimmer brannte der Ofen nur an Sonn- und Feiertagen in der kalten Jahreszeit. Nicht nur die Wäsche wurde im Waschkessel gekocht, sondern beim Schlachten benutzte man ihn auch. Die Winter waren damals kälter als heute. Darum waren auch viele Fensterscheiben, da man noch keine Jalousien und Thermopenescheiben hatte, in der kalten Jahreszeit komplett mit Eisblumen behaftet. Als Kinder hauchten wir gerne ein Guckloch in diese Scheiben. Durch Backsteine, die man zuvor im Herd erwärmte, war das Bett im eiskalten Schlafzimmer doch noch mollig warm. Die Stall- und oft die Hintertüre wurden im Winter mit Farn- oder Strohgarben innen abgedichtet.
Die Kleidung der Menschen war einfach und wurde an Geschwister weitergegeben
Jedes Haus hatte einen mit den Händen zu ziehenden Leiterwagen, der oft benötigt wurde. Bei der Heueinfuhr bekam er einen Aufsatz, so dass er eine große Auflagefläche für die schweren Heutücher hatte. Diese wurden, da sehr hoch beladen, mit einem Strick fest gezurrt. Die vollen Heutücher zog die menschliche Muskelkraft mit einem Rollseil auf den Dachboden. Bei dieser Gelegenheit holte man auch schon mal einen Krug Bier aus der Gaststätte, denn Flaschenbier wie heute gab es nicht. Übrigens wurde das Gras fürs Heu schon bei Tagesdämmerung vor Arbeitsbeginn mit der Sense abgemäht. Gewendet usw. wurde das Heu natürlich mit der Hand. Hatte man nicht genug Stroh, holte man mit dem Leiterwagen bzw. mit dem Schubbock trockenes Farnkraut aus dem Walde und streute es in den Ziegenstall. War im Frühjahr nicht mehr genug Futter vorhanden, wurden die Ziegen, da sie gerne die frischen Triebe fressen, im Niederwald gehütet.
Aus einem Stahlhelm angefertigter Nachttopf
Im Herbst mussten die Meckertiere immer zum Ziegenbock geleitet werden. Jeder Ort besaß deswegen eine Bockstation. Dahlbruch hatte zwei solcher Stationen. Der Geruch von diesen Böcken war penetrant. Wollte oder konnte die Hibbe nicht laufen, wurde sie mit dem Leiterwagen zur Begattung gefahren. Da dieses Gefährt fast nur aus Holz bestand, schrumpfte in der heißen Sommerzeit alles zusammen. Da die verzapften Stellen fest sein sollten, fuhr man den Wagen in einen Bach. Hier wurde er mit nassen Tüchern behängt, die man öfters mit Wasser übergoss.
In jedem Hause war eine Nähmaschine und jeder Lappen wurde aufgehoben, denn er konnte ja als Flicken wieder verwendet werden. Die filterlosen Zigarettenkippen, die die Besatzungsmächte wegwarfen, wurden aufgehoben und neue Zigaretten davon gedreht. Auch die Kerzenstummel sammelte man und schmolz sie für neue Kerzen wieder ein. Es gab damals nur ganz wenige Telefone. Da mein Vater Amtsbrandmeister des Amtes Keppel war hatten wir eins. Es war die reinste öffentliche Telefonzelle. Oft habe ich Leute ans Telefon holen müssen. So kann ich mich noch gut erinnern, dass ich oft den Bürgermeister von Dahlbruch und einen Oberingenieur der Siemag aus etwa 400 Meter Entfernung ans Telefon geholt habe.
Alter Küchenherd mit Wasserschiff
Um die Hungersnot für die Kinder zu lindern, gab es in der Schule die sogenannte Quäkerspeise, die meistens aus Nudeln bestand. Hierfür hatten viele Kinder auch ich eine Konservendose. An ihr war oben ein Draht als Henkel befestigt. Quäker ist eine religiöse Gesellschaft in Amerika, die diese Speisen durch Spenden ermöglichten. Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass auch die nordischen Staaten ihr
Scherflein für diese Speisen beigetragen hatten. Da bittere Armut herrschte, ist es auch nicht verwunderlich, dass die Lehrkräfte noch ihre - etwas abgeänderte - Uniform während des Unterrichts trugen. Zu den Schreibutensilien gehörten seinerzeit noch die Schiefertafel mit Griffel und Schwamm sowie das Tintenfass mit Federhalter und auswechselbarer Feder.
Aus einem Stahlhelm angefertigte Siebschüssel
In fast jeder Familie war eine handbetriebene Haarschneidemaschine. Sie war nicht immer gut geschliffen und riss oft die Haare vom Kopf. Da für den Friseur das Geld fehlte, behandelten auch die Frauen ihr Haar selbst. Dies geschah u. a. mit der Haarwellenzange, die vor Gebrauch im Backofen erwärmt wurde. War sie zu heiß, verbrannte natürlich die Haarpracht. Man wohnte seinerzeit viel beengter als heute. Aus diesem Grunde gab es auch ganz wenige Badezimmer. Gebadet wurden die Kleinkinder in einer Wanne und das Wasser musste oft für mehrere reichen. Das schmutzigste Kind wurde natürlich darum zuletzt gewaschen.
Die Not macht wie immer auch damals erfinderisch. So wurden aus Patronen Feuerzeuge hergestellt. Stahlhelme wurden zu Jaucheschöpfern, Nachttöpfen und Siebschüsseln umgebaut. Da viele Glocken im Krieg für die Rüstungsindustrie eingeschmolzen waren, baute man aus halben Fliegerbomben Ersatzglocken. Auch Brieföffner wurden aus den dazu passenden Bombensplittern hergestellt und noch viele andere Produkte wurden aus Kriegsmaterial gefertigt.
Durch die Hungersnot wurde die Bevölkerung quasi zum Hamstern gezwungen. Wer Hamstern wollte, musste natürlich etwas zum Eintauschen haben. Die Dahlbrucher hatten etwas zum Tauschen. In der alten Turnhalle war ein großes Lager von Kartoffel- und Fruchtsäcken, die man heimlich organisierte. Eine Firma aus dem Aachener Raum hatte sie im Frühjahr 1945 hier deportiert. Bei einem hiesigen Busunternehmen wurde in einer Halle ein ganzes Lager mit Sterncheszwirn entdeckt. Es waren Teile, die man kaum kaufen konnte und sich daher zum Tausch prima eigneten.
Das Feuerzeug war früher einmal eine Patrone
Da es noch keine Legebatterien gab, sah man öfters eine Henne mit Nachwuchs. Sonntags ließ man die Ziegenlämmer mit dem Schwein in den umzäunten Hof. Dabei musste das Hausschwein auch schon mal als Reittier herhalten.
Vor allem in den Städten mussten die “Trümmerfrauen” hart anpacken. Ihre Männer waren häufig noch in Gefangenschaft
Ich möchte noch eine Begebenheit, die ich Anfang der 50er Jahre, als es schon wieder Aufwärts ging, erlebt habe auflisten. Mit dem Metzgermeister aus der Nachbarschat fuhr ich ins Wittgenstein um Vieh zu holen. Wir fuhren mit einem alten Buckeltaunus, an dem ein großer Viehanhänger war, los. In den Hänger kam der Stier, der mit Handschlag gekauft wurde. Aber auch noch zwei Kälber und ein Kuhfell wurden noch mit Handschlag gekauft und mitgenommen. Sie kamen hinten in den Taunus, wo zu Hause schon die beiden Sitze demontiert waren. Meine Aufgabe bestand nun darin die Kälber von Fahrer und Steuerrad fernzuhalten damit wir wieder heil nach Dahlbruch kamen.
Übrigens war der Winter 1945/46 sehr hartnäckig. Von Dezember bis März herrschte ununterbrochen strenge Kälte. Viele Leitungen waren zugefroren. Es kam kein Hausbrand zur Verteilung. Die meisten Haushalte mussten mit zwei m³ Brennholz auskommen. Die Gesamtversorgung war sehr schlecht. Vor den Bäckerläden standen die Einkäufer oft schon einige Stunden vor Eröffnung in langen Schlangen, um ein halbes Brot auf Lebensmittelkarte zu erwerben. Die letzten bekamen oft kein Brot mehr. Mögen solche erbärmliche Zeiten doch niemals wieder kommen.