Das letzte Meckertier von Dahlbruch
Das Meckervolk, die Ziegen, waren seinerzeit im Siegerland, aber auch in vielen anderen ländlichen Gegenden, von großer volkswirtschaftlicher Bedeutung. Sie waren einst die Kühe des kleinen Mannes, haben manche Not gelindert und waren in den schlechten Zeiten oft eine Bereicherung für den Speisezettel. Neben der Milch lieferten sie auch noch Dünger in Form von Stallmist für die kleine Landwirtschaft, die jeder dabei hatte. Die Milch war sehr Fetthaltig. Wer zwei oder drei solcher Bergmannskühe besaß, hatte wöchentlich gut ein Pfund Butter, besonders wenn sie gelammt hatten. In die Zentrifuge, die man von Hand drehte, wurde die Milch entrahmt. Danach kam der Rahm in ein kleines Holzbutterfaß, worin er solange gekirnt wurde, bis Butter vorhanden war. Auch viele Kleinkinder sind in den Notzeiten mit Ziegenmilch großgezogen worden.
Bereits 1912 gab es im Siegerland 12.389 Ziegen. Überwiegend wurden die weißen hornlosen Saanenziegen gezüchtet. Es waren leistungsfähige Milchtiere. Die Ziegenhaltung wurde schon damals von ,,Amts wegen’’ gefördert, da ihre Milch einen Beitrag zur Volksernährung und somit zur Volksgesundheit leistete. So hieß es 1912, dass die Kreisverwaltung, industrielle Werke und landwirtschaftliche Verbände erhebliche Zuschüsse zur Förderung der Ziegenzucht aufbringen.
Was für große Bedeutung die Meckerlieschen einst bei uns im Siegerland hatten, geht aus folgendem hervor. Als 1936/37 in Dahlbruch die untere Hörbach bebaut wurde, kostete die Rute Land 0,50 Mark. Weil diese Häuser als landwirtschaftliche Nebenerwerbssiedlungen geplant waren, wurde allen Siedlern eine Ziege und sechs Hühner von der Gemeinde unentgeltlich zur Verfügung gestellt.
Wenn die Not am größten war, erlebte die Ziegenhaltung immer einen Aufschwung. So war es auch in den Hungerjahren nach Kriegsende von 1945 bis zur Währungsreform im Jahre 1948. In diesen Jahren wurde jeweils Anfang des Jahres im Siegerland Tausende Ziegenlämmer geboren. Sie konnten nicht alle großgezo-gen werden und bescherten so zu Ostern manche Gaumenfreude.
Bei diesen vielen Lämmern mussten natürlich auch genug männliche Repräsen-tanten vorhanden sein. Ja, so hatte jeder Ort seine eigenen Ziegenböcke. Da für die Artenerhaltung diese männlichen Vertreter unumgänglich waren, unterstützte jede Gemeinde diese Haltung mit einem finanziellen Beitrag. Auch Dahlbruch hatte einmal zwei Bockstationen für Bergmannskühe. Um diese Stationen in den einzelnen Orten ausfindig zu machen, brauchte man keine Ortskenntnisse, sondern man konnte sich auf die Nase verlassen, denn sie erzeugten einen penetranten Geruch. Wenn die Muttertiere dann im Herbst so weit waren, wurden sie zum Bock geleitet. Manch stör- risches Tier, was nicht laufen konnte bzw. wollte, wurde sogar mit dem Handwagen zur Station gefahren.
Da es ab Mitte der 50er Jahre allgemein wieder aufwärts ging, schrumpfte die Zahl der Dahlbrucher Ziegen, proportional umgekehrt zu den wachsenden Steuerkraft- zahlen der Gemeinde, erheblich zusammen. So kam es auch, dass die ohne Zweifel leistungsstarken Ziegenböcke von Dahlbruch auf der Strecke blieben.
Dagegen hielten sich im Nachbarort im traditionsbewussten Müsen die Mecker-tiere länger und somit auch die Hibbebockstation. In echter kommunalpolitischer Zusammenarbeit der Gemeindeväter von Dahlbruch bekam die Müsener Bockstation nun jährlich 600 DM Zuschuss, um die Dahlbrucher Ziegen zu versorgen.
Mit dem Wirtschaftswunder ging die Ziegenhaltung weiter zurück. So kam es auch, dass in Dahlbruch nur noch ein Exemplar dieser sympathischen Gattung übrig blieb. Es war die Ziege ,,Lieschen’’ aus der Waldstraße, die von Frau Else Setzer gehegt, gepflegt, gemolken und gefüttert wurde. Sie war eine wirkliche Edelziege, denn die Gemeinde Dahlbruch erstattete alleine für ihr seelisches Wohlbefinden ein wahrlich fürstliches Honorar von jährlich 600 DM. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die Müsener beim Herannahen der edlen Bergmannskuh ,,Lieschen’’ immer den roten Teppich ausrollten.
Im Haushaltsplan der Gemeinde Dahlbruch war 1965 wieder die Luxussteuer für Ziegen angegeben. Sie hatte aber nur noch symbolischen Charakter, denn nach Weihnachten 1964 war das edle Ziegenleben von Lieschen beendet. Wahr es wirklich das letzte Meckertier von Dahlbruch?